Wo der Wein Zeit hat
„Ich habe noch keine Landschaft gesehen, die mir so wohl tat als diese“, lobte der Dichter Clemens von Brentano den Rheingau. Ob er damit auch den Riesling von hier meinte? Wahrscheinlich, denn ihn schmeckt man einfach aus vielen heraus, diese knackig-trockene Frische. Der Rheingau ist auf jeden Fall eine Reise wert – ob flüssig oder persönlich.
Der Rheingau: klein, aber fein. Und: klein, aber oho! Ohne einen Atlas zu bemühen weiß man: Der Rhein fließt gen Norden. Bei Wiesbaden, der hessischen Landeshauptstadt, biegt er fast im rechten Winkel nach Westen ab, um sich dann bei Rüdesheim wieder seiner ursprünglichen Richtung zu widmen. Der Grund dafür ist steinig: Das Rheingau-Gebirge, das sich als Ausläufer des Taunus‘ von Ost nach West erstreckt, zwingt den Fluss zum „Linksruck“, es entstand das Rheinknie.
Der Fluss mutet an manchen Stellen aufgrund seiner Breite fast schon wie ein See an und ist ein ausgezeichneter Wärme- und Feuchtigkeitsspeicher wie -spender. Er sorgt dafür, dass die Reben vor Ort keinen übermäßigen Temperaturschwankungen ausgesetzt sind und macht den Rheingau somit als Anbaugebiet par excellence zur Heimat einer honorigen Zunft: Nirgendwo sonst findet man so viele Winzer von Weltruf auf so kleinem Raum.
Burgen und Sommer voll Musik
Und ebenfalls wie kaum ein anderes deutsches Weinbaugebiet ist der Rheingau landschaftlich von den Rebstöcken geprägt: Wein, wohin das Auge blickt! Auf rund 3.200 Hektar wächst hier der Rebensaft, wobei gut 80 Prozent davon der Riesling ausmacht. Der „Rest“ gehört dem stilistischen Pendant Spätburgunder. Zwischen den Reben lockern beeindruckende Bauten das Bild auf: Kirchen und Klöster wie Kloster Eberbach, wo der Film „Der Name der Rose“ mit Sean Connery gedreht wurde, die Abtei St. Hildegard in Eibingen oder der Wallfahrtsort Kloster Marienthal. In Mittelheim steht mit der Basilika St. Ägidien die älteste Kirche im Rheingau, in Geisenheim lockt der Rheingauer Dom – viele der Gotteshäuser sind auch Spielstätten des Rheingau Musik Festivals, das seit fast drei Jahrzehnten als eine der wichtigsten Konzertreihen ihrer Art weltweit jedes Jahr aufs Neue einen „Sommer voller Musik“ veranstaltet.
Wiege der Spätlese
Im Rheingau stehen auch viele Burgen (oder ihre Reste): Da sind die Kurfürstliche Burg in Eltville – ein beliebter Ort, um standesamtlich den Bund für’s Leben einzugehen – und am gleichen Ort Burg Crass, heute eine noble Herberge; da ist Burg Scharfenstein in Kiedrich, von der der 30 Meter hohe Burgfried samt -verlies über den Reben thront. In Rüdesheim fallen die vor 993 gegründete Burg Ehrenfels, die Brömserburg und die Boosenburg ins Auge, weitere Trutzbauten finden sich unter anderem in Hattenheim, in Walluf und in Frauenstein – überall Monumente, die Geschichten und Historie atmen.
Zum Beispiel Schloss Johannisberg, wo die Geschichte vom Spätlesereiter stattfand. Denn genau hier hat diese hohe Form des Weinausbaus ihren Ursprung, wovon vor Ort ein steinernes Denkmal und in vielen Weingütern unzählige Flaschen mit köstlichem Inhalt zeugen. Sind die Deutschen für ihre Pünktlichkeit berühmt, kam diesem Wein die Verspätung eines Boten zugute. Wir schreiben das Jahr 1775: Anders als die übrigen Rheingauer Weingüter hat der Kellermeister von Johannisberg auf eine Erlaubnis des Fürstbischofs von Fulda zu warten, um mit der Lese beginnen zu können. In diesem Jahr aber verspätet sich der Bote. Die Folge ist auf den ersten Blick eine Katastrophe: Die Trauben an den Weinstöcken werden zusehends von Fäulnis befallen und verlieren an Volumen. Doch als der Bote endlich ankommt, lesen die Mönche pflichtbewusst die augenscheinlich verdorbene Ernte und der Kellermeister versucht sein Bestes, um daraus einen Wein zu keltern. Der Rest ist (Wein-)Geschichte: Die Edelfäule, die es den Winzern (nicht nur) im Rheingau ermöglicht, in besonderen Jahren Weine von herausragender Qualität bis hin zur Beeren- und Trockenbeerenauslese zu machen, war entdeckt! „Mon Dieu, wenn ich doch so viel Glauben in mir hätte, dass ich Berge versetzen könnte! Der Johannisberg wäre just der Berg, den ich mir überall nachkommen ließe“, schwärmte der Dichter Heinrich Heine. Übrigens hat auch die Flaschenabfüllung im Rheingau ihren Ursprung.
Wo Rheingau draufsteht, ist Qualität drin
Rheingau steht für Qualität – nicht nur bei Spätlesen. Stets sind die heimischen Winzer auf der Suche nach neuen und ehrgeizigen Zielen. Eines davon ist seit dem Jahr 1999 die Auszeichnung „Erstes Gewächs“. Solche Weine stammen aus klassifizierten, eben „ersten“ Lagen und werden nach hochanspruchsvollen und strengen Kriterien gekeltert: Voraussetzung für das Prädikat ist ein klimatisch begünstigter Boden, ein selektiver Rebschnitt zur Vermeidung von Überproduktion, Handlese und trockener Ausbau des Mostes, dessen Gewicht mindestens Spätlese-Qualität haben muss. 1.132 Hektar und damit fast ein Drittel der Rebfläche sind für „Erste Gewächse“ klassifiziert.
„Nachwuchspflege“ wird auch an der Hochschule Geisenheim University betrieben, einer von vier Orten in Deutschland, an dem unter anderem die Studiengänge „Weinbau und Oenologie“ sowie „Internationale Weinwirtschaft“ angeboten werden. Und noch etwas: An den Toren der Weingüter vor Ort weist verhältnismäßig oft ein Messingschild auf deren Mitgliedschaft im Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) hin: Von den rund 200 Winzern dieser Qualitätsverfechter stammen mehr als 30 aus dem Rheingau. Also nichts wie hin und probieren.