Die Retterin des Weinbergs
Geboren wurde sie 1906. Ein ganz besonderer Weinberg bringt mich nun mit ihr in eine ungewöhnliche Verbindung.
Tante Greta“, deren Name eigentlich Margarethe Roth lautet, war die erste Retterin eines besonderen Weinberges am Mittelrhein. Beinahe wäre es anders gekommen. Ihrer Geschichte wollte ich noch einmal auf den Grund gehen, also sitze ich zum Gespräch bei ihrer Nichte mit deren Tochter auf den Jugendstil-Polstern. „Tante Greta war eine Frau mit kräftiger Statur. Sie hat ihre Mitarbeiter auf Trab gehalten“, sagt die Nichte. Ihre Tochter nickt. „Sie war definitiv resolut. Aber sie hatte ein gutes Herz!“, fügt sie hinzu. „Sie konnte gut mit uns Kindern. Ihr Lieblingsbuch, das sie uns immer vorlas, war ´Der Widerborst` – ein Buch, in dem es um einen Jungen ging, der nicht nur widerborstige Haare, sondern auch ein solches Verhalten hatte.“ Das passt dazu, dass mein Vermieter Peter Selt mir erzählte, dass die Winzerkollegen in Leutesdorf sie eigensinnig nannten, denke ich still.
Wir sprechen über die Familiengeschichte und den Weinbau in Leutesdorf. Die Nichte sucht noch einige Bilder aus den Familienalben heraus und gibt sie mir mit. Ich verabschiede mich dankend und gehe nach Hause. Mein Blick ruht beim Laufen auf den Bildern. „Komisch“, denke ich. Die Bilder berühren mich auf ihre ganz eigene Art. Zum Schreiben meines Artikels kreisen die Gedanken noch zu sehr, daher bereite ich mir eine Thermoskanne Kaffee, spaziere in die Weinberge und schaue mir die Fotos beim Laufen weiter an. Sie sprechen Bände.
Kopfkino
„Darf ich dich ein Stück begleiten?“, höre ich eine Stimme neben mir. Ich drehe mich um und sehe vor meinem inneren Auge eine Frau Mitte dreißig mit kräuseligem Haar und kräftigen Waden. „Ehm, klar!“, sage ich und lasse mich auf den Gedanken ein. „Siehst Du die hübsche junge Frau, da links?“, sagt sie und zeigt auf eines der Bilder in meiner Hand. „Das ist meine Schwester. Sie war die Schöne von uns, die Männer lagen ihr zu Füßen.“ „Aber du strahlst auf diesem Bild auch sehr“, erwidere ich und zeige auf die junge Frau vorne rechts. „Ja, die Weinberge sind meine Leidenschaft“, sagt sie mit einer Portion Wehmut in der Stimme. Ich fühle mich an das andere Bild erinnert und blättere um zu dem Portrait mit dem ernsten Blick: „Das sieht ein bisschen traurig aus.“ „Ja, es war keine einfache Zeit. Die Leute sagen, dass ich schlau bin. Ich lese viel. Politik interessiert mich ebenfalls. Ich hätte gerne Jura studiert.“ „Wäre das denn möglich?“ Sie zögert: „Ja und nein. Das Lyzeum in Neuwied wäre eine sehr gute Möglichkeit gewesen, aber mein Bruder durfte zur Schule gehen. Ich wurde an den fürstlichen Hof geschickt und bin nun ausgebildete Hauswirtschafterin – das ist schon in Ordnung“. Sie senkt den Blick, während wir weiter durch den Weinberg gehen. „Weißt Du? Mein Vater starb, als ich 29 war. Zwei meiner drei Brüder und ich übernahmen dann das Weingut. Peter und Toni wurden 1939 in den Krieg eingezogen. Ich habe versucht, zuhause alles allein weiterzuführen und mich um meine Schwester und die Nachbarschaft zu kümmern.
Uns wurden zwei Franzosen geschickt, die mir in den Weinbergen helfen sollten. Jean versuchte, sich gegen mich aufzubäumen, aber ich bin stark geblieben und alle haben ihre Arbeit gemacht. Ich habe dann eigens Französisch gelernt, um besser mit ihnen kommunizieren zu können.“ Auf meinen Hinweis, dass mir erzählt wurde, sie habe das Dorf zusammengehalten in dieser Zeit, zieht sie die Mundwinkel flach nach außen, hebt die breiten Schultern und antwortet: „Es muss doch weitergehen! So war es auch nach dem Krieg. Toni ist leider im Krieg gefallen. Mein anderer Bruder Robert ertrank, als er den Rhein nach Andernach überqueren wollte. Und Peter ... – der hat nun sein eigenes Weingut gegründet.“ „Das tut mir leid. Und nun?“, frage ich betroffen. „Ich führe das Weingut allein fort. Es ist meine Familie und es sind die Weinberge meines Vaters.“ Etwas mutig finde ich es doch: Könntest Du nicht jemanden heiraten, der Dir in den Weinbergen hilft? Jemanden aus dem Ort?“ Sie zuckt zusammen: „Die Junggesellen im Ort nennen mich eine Fürstin und sagen hinter meinem Rücken, ich sei eigensinnig. Sie meiden den Kontakt. Ein Professor aus Bonn hat mir Avancen gemacht...“ „Wäre das nicht eine gute Partie?“ Sie schüttelt vehement den Kopf: „Nein! Wenn ich ihn heirate, muss ich womöglich das Weingut und meine Schwester verlassen und nach Bonn gehen. Ich liebe meine Weinberge und die Arbeit im Weinkeller! Ich muss weiter ...“. Ihr Schritt beschleunigt sich und sie verschwindet.
Älteste Reben
Verwirrt schaue ich mir die Bilder erneut an. Im Weinberg sieht sie tatsächlich glücklich aus, sie grinst regelrecht. Sehr sympathisch! An meinem neuesten Weinberg angekommen setze ich mich an die obere Kante, lasse die Füße den Steilhang hinabhängen und schenke mir einen Kaffee ein.
„Also wir haben hier immer Wein getrunken“, sagt eine Frau, etwa Mitte siebzig. Ungefragt setzt sie sich neben mich und streicht die altbackene Schürze über den erstaunlich stämmigen Beinen glatt. Ihr Haar ist kräuselig und erscheint ungemacht. „Dieser Weinberg gehörte einst meinem Vater Anton Roth. Weißt Du, warum er erst so steil herunter geht, bevor die Reben anfangen?“ Noch bevor ich antworten kann, fährt sie fort: „Sie wollten ihn in der Flurbereinigung roden und glattziehen. Aber ich habe mich geweigert!
Die Leutesdorfer nannten mich stur, aber das war mir gleich. Mein Vater hat ihn gepflanzt, als er 18 wurde. Seine Patentante hat ihn ihm geschenkt, damit er Trauben trägt, wenn er mit 21 volljährig wird.“ Ich nicke: „Es ist der einzige Weinberg, der hier unten die Flurbereinigung überlebt hat. Peter Selt ...“ „Der hat ihn von mir gepachtet! Der junge Mann wollte nach der Flurbereinigung einfach nur Weinberge haben. Die guten Lagen waren kaum zu bekommen“, unterbricht sie mich und fragt: „Wie kommt es, dass er noch immer da ist?“ Ich erzähle ihr, dass Peter Selt damals den Riesling aushacken wollte, ihm allerdings noch eine Gnadenfrist gab, weil der Wein so gut wurde. Sie lacht: „Ja, er ahnte wohl nicht, wie gut die alten Reben von 1892 sind.“ Ich ergänze: „Hätte seine Frau ihn nicht aufgehalten, wären sie gerodet worden. Es sind mittlerweile die Ältesten Reben vom ganzen Mittelrhein.“
„Tatsächlich?“ „Ja. Aber Peter wird bald in Rente gehen. Es liegen viele Weinberge brach. Der Weinberg bringt maximal noch 200 Liter und kostet viel Zeit und Geld.“ Sie sieht erschrocken auf: „Aber die kleinen Trauben sehen perfekt aus! Er wird doch wohl nicht ...“ Ich beruhige sie: „Nein. Peter hat mich mit Deiner Nichte in Kontakt gebracht. Keine Sorge, ich werde die Ältesten Reben erhalten. Sie sind fast 130 Jahre alt.“ „Du bist auch Winzerin? Was sagen denn die alten Herren dazu?“, lacht sie derb. „Nun ja. Als ich hier mein eigenes Weingut gründete, um einen der letzten Terrassenweinberge zu rekultivieren, die nicht Teil der Flurbereinigung waren, fanden sie es erst einmal seltsam. Aber das hat mich nicht aufgehalten!“ Sie grinst mich mit funkelnden Augen an und ich schaue noch einmal vergleichend auf das Foto in meiner Hand. Als ich wieder aufblicke, ist sie verschwunden ...
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